Spukgestalten
Spukgestalten sind die Seelen Verstorbener, die den Übergang in das reguläre Jenseits – also entweder in die göttlichen Gefilde des Elysiums oder der Unterwelt – nicht vollzogen haben und daher im Leben nach dem Tod in der Zwischenwelt der Schwelle ausharren.
Sie sind deutlich von den Ahnengöttern zu unterscheiden, die mit klarem Bewusstsein und aus freiem Entschluss ein Weiterwirken in der Zwischenwelt wählen. Spukgestalten hingegen sind unfreiwillig in das Netz der Schwelle verstrickt. Oftmals fehlt ihnen selbst das Bewusstsein über ihren Zustand oder gar über ihr eigenes Ableben.
Inhaltsverzeichnis
Beschreibung
In ihrer transzendenten Erscheinung gleichen Spukgestalten meist den Sterblichen, die sie einst waren, doch durchscheinend, schemenhaft und ohne körperliche Substanz. Ihr leiblicher Körper ist längst vergangen. Was bleibt, ist ein bloßes Echo ihrer Seelen. Die meisten von ihnen sind dem menschlichen Auge verborgen und verweilen zum Teil seit ewigen Zeiten unsichtbar und unerkannt unter den Lebenden. Nur wenn sie selbst eine bewusste Begegnung mit den Lebenden suchen, wechseln sie aus der Zwischenwelt der Schwelle nach Essentia, in die irdische Welt, und vermögen es, sich zu offenbaren.
Mächtigere Spukgestalten haben die Wandlung ihres transparenten Schwellenleibs gemeistert. Im Wissen um dessen Macht manifestieren sie sich in bizarren und wandelbaren Gestalten. Da der Schwellenleib keiner festen Form unterliegt, folgt er dem Willen der Seele, die ihn lenkt und nimmt jene Gestalt an, die ihrem innersten Wunsch entspringt.
Ursachen des Verbleibs in der Zwischenwelt
Die Spukgestalten verweilen in der Zwischenwelt der Schwelle, da es ihnen in den meisten Fällen nicht gelang, nach Chthonia oder in eines der anderen entrückten Götterreiche zu überschreiten. Verloren zwischen Immanenz und Transzendenz fristen sie ein Dasein in einem Zustand des Unvollendeten.
Die Gründe für dieses Verharren sind vielfältig. Oft handelt es sich um Verstorbene, die unfähig waren, mit ihrem irdischen Leben abzuschließen. Unerfüllte Pläne, unerledigte Aufgaben oder tief verwurzelte Absichten binden sie weiterhin an Essentia, die immanente Welt.
Manche Seelen wurden so jäh oder unter so erschütternden Umständen aus dem Leben gerissen, dass ihnen ihr Tod nicht bewusst wurde. Wie Schlafwandler irren sie umher – gefangen in einem traumähnlichen Zustand, ohne ihre Existenzform zu begreifen.
Andere wiederum tragen schwer an der Last ihrer Schuld. Von Reue gequält, fürchten sie die Verdammnis: das Inferno von Abyssia oder den Absud des Sündenkessels von Malgor. Aus Angst vor dem Nachleben in der Unterwelt verweilen sie verborgen in der Zwischenwelt.
Einige Geisterseelen aber wurden durch äußere Mächte gebunden, beispielsweise durch besondere Orte, an denen ihr Tod sie ereilte und die ihre Seele gefangen halten. Besonders an magischen oder besudelten Stätten ist dies häufig der Fall. Frieden kann ihnen meist erst dann zuteilwerden, wenn sich die Gegebenheiten in der Welt der Immanenz verändern oder die Orte durch die Macht des Lichts gereinigt werden.
Erinnerung und Verhalten
Allen Spukgestalten ist gemein, dass sie sich nur noch bruchstückhaft an ihr früheres Leben in Essentia erinnern. Meist ist ihnen lediglich jener Aspekt ihrer Existenz bewusst, der sie an die Zwischenwelt der Schwelle fesselt – oft nur noch in der Form eines vagen, aber tief verwurzelten Gefühls. Dieses Gefühl, sei es Sehnsucht, Schuld, Wut oder Angst, dominiert ihr gesamtes Handeln.
Abseits dieser intensiven Empfindungen ist von ihrer einstigen Persönlichkeit kaum noch etwas geblieben. Ihre Gedanken sind fragmentiert, ihr Bewusstsein getrübt. Viele Spukgestalten werden vollständig von ihren Emotionen vereinnahmt, ganz ohne Kontrolle und ohne Klarheit.
Der Kontakt mit solchen Wesen birgt daher stets ein hohes Risiko. Ihre Reaktionen sind unvorhersehbar, ihre Wahrnehmung verzerrt. Oft verhalten sie sich wie Sterbliche in einem Zustand tiefster Verstörung, Wahnsinn oder Schock, nur mit dem Unterschied, dass sie über magische Kräfte verfügen. Diese setzen sie im schlimmsten Fall ungezielt, instinktiv oder aggressiv gegen alles ein, was sie als Bedrohung empfinden.
Umgang mit Spukgestalten
Spukgestalten entziehen sich der gewöhnlichen Vernichtung, denn sie besitzen keinen Körper mehr und haben ihren Platz in Essentia, der irdischen Welt, längst verloren. Eine zweite „Tötung“ ist unmöglich. Dennoch gibt es Wege, ihnen zu begegnen: durch Austreibung, Verbannung oder Erlösung.
Austreibung
Austreibung ist ein ritueller Vorgang, bei dem gezielt eine Atmosphäre geschaffen wird, die für eine Spukgestalt unerträglich ist. Dabei wird die Erscheinung nicht vernichtet, sondern lediglich vertrieben. Ziel ist es, dass der Geist den Ort aus eigenem Antrieb verlässt und sich ein neues Spukgebiet sucht.
Die Riten der Austreibung greifen auf eine Vielzahl überlieferter Praktiken des Brauchtums zurück: magische Gesänge, das Zeichnen von Schutz- oder Bannsymbolen wie dem Drudenfuß, das Verräuchern bestimmter Kräuter, das Platzieren magisch aufgeladener Steine sowie das Ausstreuen von Salz auf Türschwellen gehören zu den gebräuchlichsten Mitteln. Die genaue Ausgestaltung solcher Ritualhandlungen variiert je nach Tradition, Kulturkreis und magischer Ausrichtung.
Verbannung
Unter einer Verbannung versteht man einen mächtigen, arkanen Eingriff, bei dem eine verlorene Seele gewaltsam aus der Zwischenwelt der Schwelle entfernt und direkt nach Chthonia, in das reguläre Reich der Toten, teleportiert wird. Dieser Vorgang wird in der Regel von einem erfahrenen Magoi der Akademien vollzogen, doch die dafür benötigten Zaubersprüche gelten als sehr anspruchsvoll und werden nur von wenigen Arkanisten beherrscht. Nur wenige von ihnen sind fähig, die hohe Kunst der Portalöffnung nach Chthonia zu meistern. Ein Fehler kann fatale Folgen haben, sowohl für den Zaubernden als auch für die Seele selbst. Während der Magus im schlimmsten Fall mit nach Chthonia gerissen wird und sein Leben verliert, kann die Seele statt nach Chthonia auch versehentlich an einen anderen Ort der Unterwelt teleportiert werden und im Inferno von Abyssia oder dem Absud von Malgor landen.
Sobald die Spukgestalt den Übergang zur Unterwelt überschreitet, verliert sie ihre vorherige Form und wird zu einem sogenannten Schemen. In dieser Gestalt steht sie fortan unter der Herrschaft von Letor, dem unerbittlichen Herrn des Todes.
Erlösung
Nicht alle Experten betrachten die arkane Verbannung als den richtigen Weg im Umgang mit Spukgestalten. Vor allem die sogenannten Weißen Ritualisten lehnen diese Praktik häufig ab. In ihren Augen gleicht sie einem spirituellen Übergriff – einer erzwungenen Trennung, die der ohnehin verstörten Seele zusätzlichen Schaden zufügt.
Stattdessen widmen sie sich der schwierigen Aufgabe, Spukgestalten auf sanfte Weise zur Ruhe zu führen. Ihr Ziel ist es, den rastlosen Seelen zu helfen, ihre unerledigten Angelegenheiten aufzulösen, seien es letzte Worte, alte Schuld oder gebrochene Versprechen. Nur wenn eine Spukgestalt freiwillig ihre Bindung an Essentia, die immanente Welt, aufgibt, kann sie wahre Erlösung erfahren. In diesem seltenen Moment des Loslassens tritt sie aus eigener Kraft ihre letzte Reise in die göttlichen Gefilde an, frei von Furcht und Zwang.